Dezember
KURZGESCHICHTEN
W
as ich jetzt er-
zählen möchte,
ist im Grunde
genommen eine
eihnachtsgeschichte. Aber
keine, wie sie jetzt um diese
Zeit überall erzählt werden.
Von Herbergsuche und jung-
fräulichen Müttern, von En-
gelshaaren die Kinder jetzt
auf verschneiten Waldbäumen
entdecken können oder von
Sternen die mit ihren Schwei-
fen irgendwelchen Weisen
aus irgendwoher irgendwo-
hin irgendeinen Weg zeigen.
Auch auf treusorgende Hirten
und das Christkind brauchst
nicht zu hoffen. All´ das Zeugs
kommt in dieser Weihnachtsge-
schichte nicht vor. Ich möchte
dir von Tante Millis Beuschel
erzählen.
Weihnachten und Beuschel,
wie passt das zusammen? wirst
dich jetzt vielleicht fragen. Und
ich gebe dir recht. Auf den ers-
ten Blick: kein Zusammenhang.
Aber horch zu: Als ich auf die
Welt kam, war mein Opa schon
geschieden und hatte eine
zweite Frau. Die war jetzt nicht
meine Oma. Weil meine Oma
war die erste Frau von meinem
Opa. Zu Opas zweiter Frau
sagten wir jetzt nicht irgendwie
Stiefoma oder so, was vielleicht
in irgendeiner Art sogar korrekt
gewesen wäre. Nein. Das war
für uns die Tante Milli. Und die
hat gerne gekocht. Aber so was
von gerne, unglaublich. Tagein,
tagaus köchelte bei ihr am Herd
irgendetwas, es roch aus dem
Backrohr und mein Opa kam
kaum nach, die vielen Lebens-
mittel zu kaufen, die Tante Mil-
li verkochte, einweckte, einleg-
te oder auf was weiß ich sonst
noch für eine Art schmackhaft
zu machen versuchte. Das dum-
me daran: Tante Milli konnte
gar nicht kochen. Das wussten
natürlich nur wir und so war es
für alle Familienmitglieder je-
des Mal eine Qual, wenn Tante
Milli zum Essen lud. Und das
war oft.
Was soll ich sagen? Was im-
mer Tante Milli kochte, grillte
oder buk. Es schmeckte nach
Beuschel. Jetzt habe ich grund-
sätzlich nichts gegen Beuschel
und es schmeckte mir auch
schon als Kind. Was jetzt schon
höchst ungewöhnlich ist, dass
es Kinder gibt, die ein Beu-
schel mögen. Aber egal. Bei
mir war´s halt so. Aber wenn
jetzt ein Gulasch nach Beu-
schel schmeckt, oder ein Back-
henderl, Buchteln oder gar ein
Apfelstrudel, dann ist das auch
nicht jedermanns Sache. Siehst.
Und darum wirst jetzt auch
verstehen, wieso es nicht viele
gab, die sich gerne von Tan-
te Milli bekochen ließen. Das
Beste kommt aber erst jetzt.
Wenn Tante Milli einmal wirk-
lich ein Beuschel kochte, dann
schmeckt das nach allem an-
deren, als nach Beuschel. Wie
sie das immer so hingekriegt
hat, weiß ich nicht. Lag es viel-
leicht am Rezept. Oder an den
Zutaten. Wonach jetzt Tante
Millis Beuschel geschmeckt
hat, kann ich auch wieder nicht
sagen. Undefinierbar, trifft´s
vielleicht am ehesten.
Wennst jetzt langsam unge-
duldig wirst und endlich wissen
möchtest, wo der weihnachtli-
che Teil dieser Geschichte zu
finden ist, dann kann ich das
verstehen. Und deshalb will ich
jetzt auf diesen Punkt zu spre-
chen kommen. Und dann wirst
du sehen, dass diese Einleitung
auch in der ausführlichen Form
schon notwendig war. Weil
Tante Milli kochte ihr Beuschel
immer zu Weihnachten. Am 24.
Dezember, um ganz genau zu
sein. Begonnen hat sie eigent-
lich schon ein paar Tage früher.
So am 22. schätze ich, das wird
hinkommen. „Weil ein gutes
Beuschel braucht viel Zeit“,
hat Tante Milli immer gesagt.
Wir Kinder haben nur genickt.
Und wir haben auch genickt,
als die Tante Milli immer ge-
fragt hat: „Na, freut´s euch
schon auf das Beuscherl?“ Ein
Zeremoniell war das. Unfass-
bar. Wir mussten immer im
richtigen Moment nicken. Weil
dann war die Tante zufrieden.
Nickten wir einmal zu spät, zu
wenig, zu heftig oder einfach
gar nicht, dann war der Teufel
los. Das sag ich dir. „Saugfras-
ter, die Kinder“, sagte die Tante
Milli dann. „Ungezogene Rotz-
pipn, die sich ein Beuscherl gar
nicht verdient haben. Einmal
sollte ich euch wirklich kei-
Irgendwo und irgendwann
hatten mein kleiner Bruder
Peter und ich – wir waren fünf
und sieben Jahre alt – die Be-
kanntschaft mit dem Kasperl-
theater gemacht. Das hatte uns
mächtig imponiert. Was für
Abenteuer erlebten auf solch
einer Puppenbühne doch Kas-
perl, die Großmutter, die Gre-
te und der Seppel. Leicht zu
verstehen, dass in uns beiden
der Wunsch erwachte, solch
ein herrliches Spiel auch ein-
mal zu versuchen.
Unsere Phantasie trieb
Blüten. An einem schönen
Sonntagnachmittag wollten
wir unsere Ideen auf unse-
rem Wiesengarten hinter dem
Haus in ein waschechtes Kas-
perltheaterspiel umsetzen. Im
Schuppen nebenan fanden wir
Holzstücke, die man mit ein
wenig Vorstellungskraft als
Figuren ansehen und ihnen
Namen geben konnte. In Mut-
ters Flick- und Lappenkiste
waren Stoffreste, aus denen
wir Bekleidung für sie zau-
berten. Unsere Kasperlpuppen
bekamen alle sogenannte Wi-
ckelröcke, wofür wir weder
Nadel noch Faden brauchten.
Die Holzscheite verwandelten
sich, einmal von uns solcher-
art bekleidet, in Kasper, Groß-
mutter, Grete und Seppel.
Doch woher sollte die Büh-
ne kommen?
Das machte uns eine Weile
Sorge. Jetzt war unser großer
Bruder gefragt, der musste
uns helfen. Zum Glück schritt
er auch gleich zur Tat: Zwei
Stöcke wurden in den Boden
gerammt, ein Besenstil oben
quer angebracht und ein alter,
ausgedienter Vorhang darüber
gelegt, denn die Akteure soll-
ten wohl gehört, nicht aber ge-
sehen werden. Wir prüften die
Standfestigkeit – perfekt. Die
Kasperl-Theaterbühne
war
fertig. Als Drehbuch musste
meine reiche Phantasie her-
halten. Eine kurze Sprechpro-
be genügte.
Aber ein Theater braucht
auch Publikum. Das zu be-
schaffen war eineAufgabe, die
wir so lösten: Gemeinsam gin-
gen wir in unserem Wohnvier-
tel von Haus zu Haus, klopften
an und sagten höflich: „Guten
Tag! Heute mittag ist um zwei
Uhr in unserem Wiesengarten
eine Vorstellung mit dem Kas-
perltheater. Ihr seid alle herz-
lich eingeladen. Eintritt zwei
Pfennig.“ Eine kleine Vernei-
gung, und wir schoben ab.
Man höre und staune: Alle
Kinder kamen und bezahlten
den Eintritt. Die Spannung
stieg. Wir spielten mit unse-
ren Puppen, und unsere Köpfe
glühten, während wir unser
Stück aufführten. Das Publi-
kum applaudierte, die Puppen
mussten sich immer wieder
verneigen und danken. Wir
waren so begeistert über den
brausenden Applaus, dass der
uns völlig als Lohn für unsere
Darbietung gereicht hätte.
Mein Bruder Peter und ich
wurden keine Theaterleu-
te. Aber den Kasper und die
Großmutter, den Seppel und
die Grete gibt es heute noch.
Und immer wenn ihr Kom-
men angekündigt wird, freut
es mich, dass sie überlebt
haben.
Entnommen dem Buch:
Als wir Räuber und Gendarm
spielten
Erinnerungen von Kindern an
ihre Spiele 1930-1968. Band
29 | Reihe Zeitgut, Geschichten
und Berichte von Zeitzeugen.
256 Seiten, mit vielen Abbil-
dungen, Ortsregister. Zeitgut
Verlag, Berlin. Bestellen unter:
info@zeitgut.de, www.zeitgut.
de, Broschur, ISBN: 3-86614-
226-8, EURO 10,90
Kasperle kommt!
Anna BERWIAN