Lustige Landpartie mit schweren Schiffen

Wo der Regisseur Werner Herzog erstmals die Idee für seinen Film „Fitzcaraldo“ hatte, bei dem im Urwald ein Schiff über einen Berg gezogen wird, kann ich jetzt wirklich nicht sagen. Es könnte aber sein, dass Werner Herzog am Oberländer Kanal in Polen war.

1844 ist Damian aus der kleinen Ortschaft Buchenwald 28 Jahre alt. Seine Frau hat ihm eben als drittes Kind einen Sohn geboren und das Häuschen, in dem die junge Familie wohnt, ist nicht viel mehr als ein Rohbau, der mit alten Fenstern und Türen notdürftig gegen die Witterung abgedichtet wurde. Damian arbeitet schwer als Müllner. Mindestens zwölf Stunden am Tag schleppt er schwere Säcke, schaufelt Getreide in den Trichter über dem großen Mahlwerk oder hilft den Bauern beim Rangieren der schweren Ladewägen. Trotzdem nagen Damian und seine Familie am Hungertuch und haben kaum Aussichten auf eine Besserung. Da kommt das Angebot des Königsberger Ingenieurs Georg Steenke gerade recht. Der braucht für sein zukunftsträchtiges aber in der Region beileibe nicht unumstrittenes Projekt dringend starke Männer. Steenke plant einen rund 80 Kilometer langen Kanal zu bauen um darauf das Holz aus den oberländischen Wäldern an die Ostsee zu transportieren. Rund 2.000 Männer sollen den Kanal mit Schaufeln und Krampen ausheben und weil der königliche Baurat Steenke das dreifache des ortsüblichen Lohnes bietet, hat er seine Arbeiter bald beisammen. Unter ihnen auch Damian, der bis zu seiner Pensionierung am Kanal graben wird.

Um die gut 100 Meter Höhenunterschied zwischen den Wäldern und der Ostsee zu überbrücken, plante Ingenieur Steenke anstatt der eigentlich notwendigen dreißig Schleusen vier sogenannte Rollberge und nur eine letzte Schleuse zur Ostsee hin. Jeder dieser Rollberge sollte gut zwanzig Höhenmeter überwinden. Das damals auf der ganzen Welt Aufsehen erregende Projekte ist auch heute noch in Europa einzigartig und die genauso spektakuläre wie einfache Technik funktioniert nach 180 Jahren so klaglos wie am ersten Tag.

Die Hebewerke werden mit Wasser angetrieben, das von einem Nebenkanal aus ein tonnenschweres Schwungrad in Bewgung versetzt. Diese Kraft wird auf riesige Räder übertragen, die das Stahlseil ziehen. Ähnlich einer Seilbahn. So ist es möglich, die einem Eisenbahnwaggon ähnlichen Plattformen mit den Schiffen auf Gleisen über die Hügel zu ziehen. Auf der jeweils rund 400 Meter langen „Landpartie“ werden so um die 20 Höhenmeter ausgeglichen.

Als 1880 auch die einzige Schleuse am Kanal durch einen fünften Rollberg ersetzt wird, ist der Kanal endgültig fertig und Damian geht in Pension. Er ist gebeugt von der schweren Arbeit, seine Finger sind gekrümmt und jeder Schritt schmerzt. Obwohl die harte Arbeit der vergangenen Jahrzehnte deutlich Spuren an seinem Körper hinterlassen hat, ist er glücklich. Hat er sich doch mit Schaufel und Krampen einen kleinen Wohlstand ergraben, den er sich als junger Mann nicht vorstellen konnte. Er und seine Familie sind zwar nicht reich, aber um hin und wieder gemeinsam ins Wirtshaus zu gehen, dafür reicht es allemal.

Und Wirtshäuser gibt es viele in der Region. Eine weitere Folge des Kanals. Denn die vielen Arbeiter brauchten nicht nur Essen und Trinken, sondern viele von ihnen auch ein Nachtquartier. Zuerst boten Bauern Kost und Loggis an, dann wurden immer mehr Wirtshäuser daraus. Der Kanal hatte damit auch den Menschen an seinen Ufern zum Wohlstand verholfen.

Erst zwanzig Jahre nach der Fertigstellung zogen die ersten dunklen Wolken auf. Die Dampflok war erfunden. Ein technisches Meisterwerk, das sich Eisenbahn nannte, eroberte die Welt. Auch entlang des Oberländer Kanals. Gleise waren schnell verlegt und die Transportkapazitäten der Züge waren beinahe unbegrenzt. Der Kanal wurde immer weniger für den Holztransport genutzt und drohte letztendlich ganz zu verwaisen. Bis 1912 die „Seerose“ kam. Sie war das erste Touristenschiff auf dem Oberländer Kanal und läutet eine neue Ära ein, die noch bis heute anhält.

An Bord ist Hochstimmung, obwohl das Schiff noch am Steg der Haltestelle Buszyniec (Buchenwald) liegt. Bierdosen zischen, Flachmänner mit Wodka, den es in Polen in schier unüberschaubar vielen Geschmacksrichtungen gibt, kreisen. Jausenbrote werden ausgepackt. Stärkung tut auch not, denn knapp fünf Stunden wird die Fahrt bis nach Elblag dauern. Dabei geht es auch über den Drausensee. Ein je nach Wasserstand bis zu 1.700 Hektar großes Naturschutzgebiet, in dem mehr als 150 verschiedene Vogelarten ihre Brutplätze haben.

Mit einem Ruck setzt sich das Boot in Bewegung und schon nach wenigen Metern muss der Kapitän zentimetergenau steuern. Es geht auf die erste Lore. Die ist tief im Wasser, nur zwei Geländer sind links und rechts zu sehen. Die dreiköpfige Crew ist eingespielt. Noch während der Kaptiän das Boot schwimmend auf den Wagen steuert, werden die Leinen festgemacht und das Boot verankert. Ein Hammerschlag auf einen Gong informiert den Schleusenwärter am Gipfel des Rollberges, dass die „Kormoran“ abfahrtbereit ist. Das Wasser wird auf das Schwungrad umgeleitet und das Schiff auf dem fahrbaren Untergestell nach oben gezogen. Langsam kommt der 28 Tonnen schwere Wagen immer weiter aus dem Wasser und trägt das 50 Tonnen schwere Schiff wie ein Zug über den Berg.

Fünf Mal machen die Passagiere dieses Schauspiel mit. Und mit jedem Rollberg kehrt schlagartig Ruhe ein. Nix jausnen oder trinken. Einfach nur schauen ist angesagt.

Transportschiffe gibt es auf dem Oberländerkanal längst keine mehr. Neben den Passagierschiffen, die jährlich mehr als 30.000 Fahrgäste befördern, nutzen auch private Bootsfahrer den Kanal. Und so schweben neben Motor- oder Fischerbooten auch Segelyachten über das Land.

1992 hat die Stadt Ostróda den Betrieb des Kanals und den Schutz des Ökosystems in der Kanalumgebung übernommen. Die Ausflugsschiffe verkehren seither fahrplanmäßig von 1. Mai bis 30. September. Besonders in den Ferienmonaten ist es aber ratsam, sich vorab Fahrkarten online zu reservieren.

Rupert Lenzenweger

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Achtung Gegenverkehr. Die Rollberge werden auch von Freizeitkapitänen gerne genützt.

Alte Technik, die auch nach 180 Jahren wie am Schnürrchen funktioniert. Die Ausfahrt aus einem Hebewerk ist für den Kapitän Zentimeter-Arbeit.

Auf solchen Loren werden die 50 Tonnen schweren Schiffe über die Berge gezogen.

Endstation Elblag. Nach knapp fünf Stunden Fahrt ist das Ziel erreicht. Per Bus geht es für die Passagiere zurück zum Ausgangspunkt in Bucyniec. Alle Bilder: Rule