VOLLMOND 6-2021

VOLLMOND 6/2021 31 Längst war das für jeden von uns Routine. Wir trauten unseren Augen kaum: In der Tür stand ein kleines Mädchen, eingepackt in ein zugeknöpftes Mäntelchen. Es trug winzige Fausthand- schuhe und hatte eine Mütze auf, die über die Ohren reichte, aber darunter kamen ihre langen hellbraunen Haare zum Vor- schein. Vor uns, den Soldaten mit Waffen in den Händen, hatte die Kleine keine Angst. Überhaupt hatte sie keine Ahnung, dass sie sich gerade in große Gefahr gebracht hatte. Ihr Alter konn- ten wir nur grob schätzen, vielleicht fünf, vielleicht auch sechs Jahre. Die Kleine musterte uns, sie schien solche Anblicke gewohnt zu sein, seit Jahren herrschte Krieg. Sie sah sich um, als würde sie etwas suchen. Dann zog sie sich die Fausthandschuhe aus und warf sie achtlos auf den Boden. Einer hob sie auf und schob sie ihr in die beiden Taschen des Mäntelchens. Das Mädchen bemerkte es nicht einmal, so eifrig sah sie im Raum umher. Dann fiel ihr Blick auf den Boden, und sie fand, was sie ge- sucht hatte. Der Boden war überdeckt mit Stroh, der Raum musste wohl einmal als Stall gedient haben. Die kleinen dun- kelbraunen Augen des Mädchens begannen zu leuchten. In der Mitte des Raumes kniete sie nieder, und ihre winzigen Kinder- händchen langten neben einen Soldatenstiefel, der riesig wirk- te. Sie nahm einen Strohhalm und einen zweiten und sammelte weitere, bis ihre Hände voll waren. Schweigend schauten wir ihr zu. Die Kleine trug das Stroh zu einem Schemel in der Nähe des Ofens. Dort legte sie einzelne Halme aufeinander. Da rief sie schließlich voller Freude aus: „Une étoile!“– ein Stern! Das Mädchen ging zurück und sammelte noch mehr Halme für einen zweiten Stern. Da lehnte einer von uns sein Gewehr an die Wand. Er nahm Zwirn und eine kleine Schere aus seinem Nähzeug – das hatte jeder Soldat bei sich – und er begann, die Strohhalme auf gleiche Länge zurechtzuschneiden. Die Kleine sah ihm überrascht in die Augen und nahm ihm die Strohhalme aus der Hand, legte sie wiederum sternförmig zusammen. Spon- tan legte sie die Strohhalme in seine Hände, er band den Zwirn darum, und ein weiterer kleiner Strohstern war entstanden. Ein anderer Soldat legte seine Waffe ab, bückte sich, sam- melte Halme vom Boden auf, nahm eine alte Holzkiste, stellte sie an den Schemel und setzte sich. Einer nach dem anderen, auch ich, legte seine Waffe ab. Da waren wir, diese abgekämpften, erschöpften Männer mit zerschundenen Uniformen und formten Strohsterne, mit unse- ren von Kälte und Eis aufgerissenen schmutzigen Händen, zu- sammen mit einem kleinen Mädchen, das wir gar nicht kann- ten. Das Mädchen stimmte mit ihrer hellen klaren Stimme ein Weihnachtslied an. Sie sang es in die Nacht hinaus. Leise knis- terten die Holzscheite im Ofen.“ In der Klasse war es still, als unser Zeitzeuge geendet hatte. Diese Geschichte ist dem Band 13 der Zeitgut-Serie „Unvergessene Weihnach- ten“ entnommen. Insgesamt finden sich in dem Buch auf 192 Seiten 31 Geschichten mit Weihnachtserinnerun- gen aus längst vergangenen Zeiten. Das Buch gibt es als Taschenbuch und in ge- bundener Ausführung um € 8,90 bzw. € 11,90. ISBN: 978-3-86614-275-6

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