VOLLMOND 6-2021

30 VOLLMOND 6/2021 M eine Zeit als Referendar war nur vorüberge- hend, die Erinnerung an eine Unterrichtsstun- de blieb. Im Dezember 1996 unterrichtete ich am Gymnasium in Spaichingen eine 10. Klasse in Geschichte. Die Epoche hätte un- weihnachtlicher nicht sein können – der Zweite Weltkrieg. Die hellflackernden Kerzen am Adventskranz bildeten einen völ- ligen Gegensatz zu den grausamen Bildern und Filmen über diese Zeit. Zum Abschluss hatte ich einen Zeitzeugen in der Hoffnung eingeladen, er könnte den Schülern Antworten ge- ben, die ich nicht geben konnte. Er war seinerzeit Mitte siebzig, zeigte sich erfreut über die Einladung, und als er zu uns kam, hatte er seinen besten Anzug angezogen. Wir schoben die Tische an die Wand und setzten uns in einen Kreis, das Gespräch sollte ungezwungen sein. Da saß er nun, der Mann, der das alles miterlebt hatte und Fragen beantworten sollte. Alt war er, aber nicht müde. Er erzählte, wie er seinen Einberufungsbescheid zur Wehrmacht bekommen hatte, wie er nach einer kurzen Ausbildung an die Ostfront kam und kurz da- rauf an die Westfront versetzt wurde, das war im Herbst 1944. Er musste an der Ardennenoffensive teilnehmen, sie begann am 16. Dezember. Schon war er dabei, das Leben an der Front zu beschreiben, da unterbrach ihn eine Schülerin unvermittelt und fragte: „Wo waren Sie an Heiligabend?“ Kurz stockte der Mann und es schien, als hätte ihn die Frage überrascht. Für einen Moment schloss er die Augen. Die Klasse wartete und er begann eine Geschichte zu erzählen, die ich nie vergessen habe: „Den Heiligabend des Jahres 1944 verbrachten wir in der Nä- he der belgischen Stadt Bastogne und keinem von uns war zum Feiern zumute. Tagelang hatten wir in heftigen Kämpfen dich- ten und tiefverschneiten Wald durchquert, manchmal bei minus zwanzig Grad. Wir waren erschöpft und ausgemergelt. Aber wir hatten das Glück, zumindest den Heiligabend nicht draußen in der nahegelegenen Feuerstellung verbringen zu müssen. Für wenige Stunden konnten wir uns ausruhen und wärmen. Wir stießen auf einen größeren Kellerraum eines teilweise zerstör- ten Bauernhofs. Seit Mitte Dezember befanden wir uns auf dem Vormarsch der Ardennenoffensive, waren aber kurz vor Bastogne zum Ste- hen gekommen. Die dort eingeschlossenen US-amerikanischen Kräfte wehrten sich beharrlich. Pausenlos wurde geschossen. Die Hoffnung, noch einmal heil aus diesem Inferno zu kom- men, hatte kaum einer von uns an dem Fest, das doch wie kein anderes für die Hoffnung stand. Für viele war es das letzte Weihnachten, und sie ahnten es. In unserem Abschnitt war am 24. Dezember nicht viel los, aber das Geknatter von Maschinengewehren und das Detonie- ren von Granaten riss die ganze Nacht nicht ab. Der Raum wirk- te leer und war halbdunkel, es war uns gleichgültig. Einer nach dem anderen stolperte herein, Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere, es gab keinen Unterschied mehr. Die Kämpfe der letzten zwei Wochen hatten ihre Spuren in unseren Ge- sichtern und an den Uniformen hinterlassen. Seit vielen Tagen waren wir nicht mehr aus unserer Kleidung herausgekommen. Schweiß hatte die kratzigen Holzfasern unserer Unterwäsche geschmeidig gemacht, und wir spürten sie schon lange nicht mehr. Wir hatten uns nichts mehr zu erzählen, das ununterbro- chene Zusammensein in den zurückliegenden Wochen hatte nichts mehr übriggelassen. Gewehre wurden akkurat an die Wand gelehnt, Patronengurte und Helme wurden abgenommen und davor gelegt, korrekt ne- beneinander, ordentlich, militärisch, wie wir es gewohnt waren. Wir siezten uns und wir duzten uns durcheinander, wir mach- ten ein Feuer in einem alten Ofen. Alle waren wir erleichtert, zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder ein wärmendes Dach über dem Kopf zu haben. Alles nutzten wir als Sitzgelegenheit: einen umgedrehten Blecheimer, einen Stapel Holz, ein rampo- niertes Feldbett. Niemand sprach. Ein zerknülltes Päckchen Zigaretten machte die Runde, nach und nach entflammten Streichhölzer und beleuchteten beim Anzünden die unrasierten hohlwangigen Gesichter, selbst die jüngeren unter uns sahen zerfurcht aus. Mancher dachte an Heiligabend in der Heimat, schloss die Augen und sah seine Frau und seine Kinder, wie sie die Kerzen amWeihnachtsbaum anzündeten. Wir alle wollten für heute nichts mehr sehen und nichts mehr hören. Die quietschende Kellertür unterbrach unseren Dämmer- schlaf. Es war die Langsamkeit und Vorsichtigkeit, mit der sie aufgemacht wurde, die uns aufschrecken ließ. Alarmiert spran- gen wir auf, einer stülpte sich seinen Helm über, andere luden ihre Pistole, einen Karabiner und eine Maschinenpistole durch. Von Christian METZNER KURZGESCHICHTE

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