VOLLMOND 5-2023

Paracelsus und die Dame ohne Hemd SAGE aus dem Mondseeland I 36 VOLLMOND 5/2023 m Sommer 1541 hielt sich der berühmte Arzt T h e o p h r a s t u s Paracelsus häufig in der Burg Wartenfels auf. Er verliebte sich in die Schwes- ter des Pflegers, Adelinde von Sonneck, deren Gemahl seit langer Zeit in Tunesien ver- schollen war. Paracelsus und Adelinde planten bereits ihre Vermählung als plötzlich ihr verschollengeglaubter Ge- mahl auftauchte. Mit gebro- chenem Herzen ging Para- celsus seines Weges. In der Nähe des Denggenhofes, wo sich die Wege nach Thalgau und Hof kreuzten, bemerkte er im Straßenstaub eine selt- same Gestalt sitzen. „Paracel- sus!“, schnarrte die Stimme des fremden Kerls, „welchen trüben Gedanken gilt dein Sinn?“ Der Arzt erkannte gleich den Pelzebub: „Was soll ich gerade dir Pelzebub mein Leid klagen! Kannt du überhaupt verstehen, wenn die schöne Geliebte gleich der letzten zierlichen Blume aus dem Herzen verschwindet?“ „Doch, ich versteh deine Not. Fürwahr kann ich nicht die edle Frau herzaubern, aber ich werde dir eine Blume schaffen von unvergleichba- rer Gestalt, fürstlicher Bläss und lieblicher Stimme. Die- ses Geschöpf wird dich dann immer an deine Geliebte er- innern.“ Noch bevor Paracel- sus den Pakt eingehen konnte, klang ein süßer Ton durch die dämmrige Morgenluft. Eine Waldfee flatterte daher und rief: „Tu es nicht! Ich zeige dir noch heute Nacht eine Blume, die für dich ewige Erinnerung an die Anmut und Schönheit deiner Geliebten sein wird.“ Nun entbrannte ein Wettstreit zwischen dem Teufel und der Waldfee. Wer bis zum Sonnenaufgang eine Pflanze schafft die dem Ebenbild der verlorenen Geliebten gleicht, dem gehört das Seelenheil von Paracelsus. Der Pelzbub ging gleich ans Werk und versuchte eine wunderschö- ne Blume zu erschaffen, aber seine Ungeschicktheit war ihm im Wege. Einmal zer- fetzte er die Blütenblätter mit den klauigen Fingernägel, ein anderes Mal war der bors- tige Schwanz der Übeltäter der sie beschädigte. Bei Son- nenaufgang präsentierte er sein wenig rühmliches Werk. „Bei Gott!“, rief Paracelsus, „wie soll mich dieses erbar- mungswürdige Geschöpf an die Schönheit meiner Gelieb- ten erinnern?“ Die Waldfee hüpfte auf einen taugetränk- ten Grashalm und rutschte die Rinne hinunter, bis sie in der Erde verschwand. Im selben Augenblick erschie- nen die blasslila Blüten der Herbstzeitlosen, voller Hin- gabe und Zierlichkeit. Gleich dem anmutigen Körper sei- ner Geliebten schmückten keine Blätter den schlanken Stängel und als die klaren Tautropfen in den Trichter der Blüte kullerten, klang es wie der Ton einer zarten, hel- len Stimme. Da packte der Satan seine Blume und warf sie hoch oben in eine der Felsklüfte der Berge, wo sie seitdem als Alpenglöckchen ihr Dasein fristet. Bedingt durch die Nachahmung der Gestalt und Lieblichkeit der Burgfrau, aber auch durch die Blätterlosigkeit, erhielt die Herbstzeitlose im Volks- mund den Namen: Dame oh- ne Hemd. Noch heute ist sie, in reichen Horsten blühend, eine faszinierende Zierde der herrlichen Wiesen in Thal- gauegg. Sagenquelle aus dem Buch: Goldbrünnlein und Drachen- wand. Sagen und Märchen einer Landschaft für Erwach- sene und Kinder, Illustratio- nen Heilgard Maria Bertel, Herausgeber, Verleger Prof. MMag. DDr. Bernhard Bal- thasar Iglhauser, Verkauf: im Gemeindeamt Thalgau

RkJQdWJsaXNoZXIy MTA1MzE0