VOLLMOND 3-2024

Der Wettervogel und das Goldkreuz SAGE aus dem Mondseeland V 26 VOLLMOND 3/2024 or langer Zeit lebten in dem lieblichen Dörf- chen Thalgau glückliche und gottesfürchtige Menschen. Eines Tages aber rauschte ein mächtiger Vogel daher. Das Untier setzte sich auf eine Tanne, öffnete sei- nen pechschwarzen Riesen- schnabel und stieß eine kleine, dunkelgraue Wolke hervor, die er mit einem Schnauben über das ganze Tal trieb. Anschlie- ßend verschwand das Untier. Aus der Wolke fielen aber bald übelriechende Wassertropfen, die sich wie ein Pechschleier über die blühende Landschaft legten. Am nächsten Tag er- schien der Vogel erneut, setzte sich wieder auf eine Tanne und öffnete den Schnabel. Daraus entfuhren Blitz und Donner. Danach verschwand der Vogel wieder. Einige Tage später er- hob sich um Mitternacht ein gewaltiger Sturm, Schwefel- wolken kamen auf und der widerliche Vogel erschien erneut. Er ließ sich auf der Spitze des Kirchturms nieder, während er siedenden Dampf und stinkende Saftströme ausschwitzte, bevor er aber- mals seinen Schnabel öffnete. Diesmal dröhnte und klirrte es, während sich ein Schwall von Hagelkörnern, Eis- und Schneeklumpen aus dem Scheusal über das gesamte Tal ergoss. Fels- und Wasserblö- cke stürzten von den Hängen und überschwemmten Wiesen und Häuser. Das Untier ver- schwand wieder lautlos. Alle Jahre wiederholte sich nun dieses Geschehen. Die Talbewohner waren verzwei- felt. Eines Tages zog ein alter Zauberbanner durch das Dorf und meinte: „Der schreckli- che Wettervogel ist der Teufel. Wenn der Höllenvogel auf der Kirchturmspitze sitzt, muss man ihm ein goldenes Kreuz- lein in den aufgerissenen Schnabel werfen.“ Der Rechts- pfleger des Ortes setzte darauf- hin eine hohe Belohnung von Gold und Silber für denjenigen aus, der den Rat des alten Zau- berbanners befolgte. Ein junger Holzknecht woll- te eben eine mächtige Fichte schlagen, als plötzlich Blätter eines Efeus mit zarter Stimme zu ihm sprachen. „Verschone uns! Nimm einen Efeuzweig. Kommt der Teufelsvogel wie- der, dann setze das Ästlein vor Mitternacht in die Erde neben der Kirchturmmauer!“ Der Holzknecht tat wie geheißen und bewahrte einige Efeublät- ter auf. Als der grässliche Vo- gel Wochen später wieder in der Nacht kam, nahm der muti- ge Jüngling das Zweiglein und grub es vorsichtig neben der Steinmauer beim Kirchturm ein. Sofort spross der Efeu die Turmmauern empor und bil- dete ein undurchdringliches, festes Gewirr von Zweigen, an denen der Bursche hinauf klet- tern konnte. Oben angekom- men verdeckten ihn die Efeu- blätter vollständig. Als sich der stinkende Teufelsvogel auf der Spitze des Turmes nieder- ließ und den riesigen Schnabel öffnete. riss sich der Holz- knecht sein geweihtes Gold- kreuzlein von der Halskette und warf es in dessen Schlund. Das Tier stieß grollendes Ge- krächze aus, stampfte wütend mit seinen Fängen große Stei- ne aus der Mauer und ging dann in Flammen auf. Seit dieser Zeit war das Scheusal nie mehr zu sehen. Der Efeu rankt sich immer noch als Zei- chen der Unsterblichkeit an der Steinmauer des Thalgauer Kirchturms hinauf. Der Holz- knecht ließ mit seiner Beloh- nung die zerstörte Kirche neu errichten. Jahre später setzten die Dorfbewohner als Zeichen der Dankbarkeit ein golden- des Kreuz auf die Spitze des Kirchtums, wo es heute immer noch glänzt. Sage aus dem Buch: Goldbrünnlein und Drachen- wand. Illustrationen Heilgard Maria Bertel, Herausgeber, Verleger Prof. MMag. DDr. Bernhard Balthasar Iglhauser, Verkauf: im Gemeindeamt Thalgau

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