VOLLMOND 1-2024
Das klingende Gold am Totenweg SAGE aus dem Mondseeland A VOLLMOND 1/2024 37 ls das kleine Berg- dörfchen Fuschl noch keinen eige- nen Friedhof hat- te, wurden die Verstorbenen zur letzten Ruhestätte nach Thalgau gebracht. Gebeugt und fröstelnd saß der alte To- tengräber am Fuhrbock. Nach jeder Steigung überprüfte der bleiche Kutscher mit einem Griff nach hinten, ob die Be- festigungsseile noch straff gezurrt waren und der Sarg nicht ins Rutschen gekom- men sei. Das Ochsengespann bewegte sich an „Baumgar- ten“ und „Kriechbaum“ vor- bei zum nahen Waldesrand. Kurz bevor der flache Wie- sengrund in den Waldabhang nach Thalgau fällt, hielt der schwarzgekleidete Fahrer ne- ben einer kleinen Kapelle, die wie ein malerischer Punkt aus dem satten Grün herausleuch- tete und stieg ab. Der „To- ten-Lois“ stellte zwei Kerzen in das blumengeschmückte Fenster, zündete sie an und murmelte ein Gebet. So ge- währte er dem Verstorbenen einen Blick auf den letzten Sonnenaufgang über Fuschl bevor es beim Morgenläuten der Kirche den steilen Weg nach Thalgau hinunterging. Die Stille der Andacht wur- de von einem heranrasenden leichten Gefährt, gezogen von sechs schneeweißen Schimmeln, unterbrochen. Die großen Räder der kleinen Kutsche waren mit Gold und Silber beschlagen, vorne saß eine vor Übermut schallend lachende Edelfrau. In fürch- terlichen Zorn schrie sie: „Ich muss noch in der nächsten Stunde auf Burg Wartenfels sein, versperre mir also nicht den Weg!“ „Herrin, ich ge- währe demVerstorbenen noch einmal den Aufgang der Son- ne zu sehen. Beim Kirchen- geläut fahren wir weiter.“, sagte der „Toten-Lois“. „Du einfältiger Gottesnarr! Ich bin die Gräfin von Wildeneck und nun reite ich mit meinem Ge- spann weiter. Aber die Wün- sche des Toten kann auch ich erfüllen. Ich werde meinen Pferden derart die Peitsche geben, dass das Schlagen der eisernen Hufringe glühende Funken erzeugen wird, die dem morgendlichen Glutball der Sonne gleichen. Die Kut- schenräder werde ich über Steine und Felsen lenken, damit durch ihr Schlagen ein Geläut wie Kirchenglocken erklingt“, rief die Kutscherin. In diesemAugenblick zog ein Gewitter vom Schober her auf und Donnergrollen hallte von den Felsen der Drachen- wand wider. Die eben noch blitzenden Augen der Wild- eneckerin wurden matt, die roten, frischen Wangen er- bleichten und Fieberfrost be- gann ihren Körper zu schüt- teln. Wie auf ein geheim- nisvolles Zeichen tänzelten und stürmten die Pferde in wildem Galopp mit dem Ge- spann davon. Das Schlagen der Räder tönte wie das helle und tiefe Geläut einer Glocke durch die Gegend. Niemand weiß genau, wie und wo die Wildeneckerin ums Leben kam. Aber noch heute glau- ben manche Wanderer, wenn der scharfe Wind über die Egger Hochfläche bläst, das leise Klingen der Goldräder bei der „Totenkapelle“ in der Erde zu vernehmen. Sage aus dem Buch: Goldbrünnlein und Drachen- wand. Sagen und Märchen einer Landschaft für Erwach- sene und Kinder, Illustratio- nen Heilgard Maria Bertel, Herausgeber, Verleger Prof. MMag. DDr. Bernhard Bal- thasar Iglhauser, Verkauf: im Gemeindeamt Thalgau
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