Ostsee
FAHRTWIND Ö sterreich? Ös- terreich kenne ich nur aus dem Fernsehen. Der ältere Herr in seinem Vorgarten mustert uns skeptisch, aber nicht un- freundlich. Als wir ihn nach dem historischen Ortskern fragen, lacht er: „So einen gibt’s bei uns nicht.“ „Aber da vorne am Radweg steht doch ein Wegweiser dorthin“, werfen wir ein. „Auf Wegweisern steht vieles. Aber wenn sie das al- te Feuerwehrhaus und das Schulhaus daneben wirklich sehen wollen, fahren sie die- se Straße lang. Aber ich sage ihnen, es zahlt sich wirklich nicht aus. Überhaupt bei die- sem Wetter.“ Tatsächlich hat es heftig zu regnen begonnen und wir haben uns mit unseren Fahr- rädern unter einen Apfelbaum gestellt, dessen Äste weit aus dem Vorgarten heraus über die Straße ragen. Wir sind in Zempin auf der Ostseeinsel Usedom und wollten eigentlich nach He- ringsdorf. Aber ausgerechnet jetzt hat uns Regen überrascht. Ob wir den ärgsten Guss noch unter seinem Apfelbaum ab- warten dürfen, fragen wir den älteren Herrn und der beginnt zu erzählen. „Sie müssen wis- sen“, sagt er, „vor 200 Jahren war das hier eine der ärmsten Regionen. Die Leute lebten bescheiden vom Fischfang. Dann kam der Tourismus. Lu- xuriöse Seehotels wurden die ganze Küste entlang gebaut, mit Promenaden davor und weitläufigen Strandbädern. Aber nicht nur die Ortskerne veränderten sich. Auch die Vororte. Da wurden scheuß- liche Betonbauten aufgezo- gen und das hat sich bis heute nicht geändert. Was da gebaut wird, tut einem bodenständi- gen Einheimischen wie mir bis ins Herz weh.“ Weil es in Salzburger Win- tersportorten oder im Salz- kammergut ja nicht recht anders zugegangen ist, emp- finden wir es als nicht ganz so schlimm. Vielmehr lassen wir uns begeistern von den prunkvollen Hotels und dem bunten Treiben entlang der Strandpromenade, die im Os- ten von Usedom mit eini- gen kurzen Unterbrechun- gen im Grunde genommen 30 Kilometer lang ist. Das reicht von Ahlbeck an der polnischen Grenze bis hinauf nach Peenemün- de, das vor allem durch die Nazis traurige Berühmt- heit erlangt hat. Die haben hier in ihrer Heeresver- suchsanstalt ab 1936 Raketen entwickelt und auch die V2 ist hier entstanden. Obers- ter Kopf war damals der erst 25-jährige Wernher von Braun, der später als einer der Väter des Apollo-Programms und der ersten Mondlandung in die Geschichte eingehen sollte. Noch heute erzählen riesi- ge Backsteingebäude einen Teil der Geschichte, die sich hier abgespielt hat. Die Nazi errichteten auf Usedom das damals modernste Kraftwerk der Welt, das täglich 400 Ton- nen Steinkohle für den Be- trieb brauchte. Und weil die Kohlen mit Schiffen kamen, musste auch ein riesiger Ha- fen gebaut werden. Der bietet heute den Touristen eine wei- tere Attraktion. Das U-Boot U-461. Um 1960 in Russ- land erbaut ist es das größte konventionell angetriebene Unterseeboot und eines der 16 Boote der Juliett-Klasse. Fast 90 Meter ist das Unge- tüm lang und täglich stapfen hunderte Touristen durch den Bauch des engen Stahlkolos- ses. Überall unzählige Venti- le, Rohre, Hebel und Pedale, Schoten und Messinstrumen- te. Und spätestens nach der Hälfte des Kriechgangs durch den engen Schlauch fragst dich angesichts des Wirr- warrs, ob das Ding schon jemals wirklich funktioniert hat. Wirklich funktioniert hin- gegen die Tauchglocke, die am Ende der langen See- brücke von Zinnowitz steht. Mehr als 20 Leute können damit in die Tiefen der Ost- see abtauchen. Die Touristen stehen Schlange, um sich ein paar Meter tief versenken zu lassen. Und weil dort unten die Aussicht relativ beschei- den ist, läuft in der Taucher- glocke eine Multi-Media- Schau ab, in der zu sehen ist, Russisches U-Boot im Hafen von Pennemünde.
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