DOPPELPUNKT Dezember 2020
Dezember 2020 Seite 22 SUDOKU - die Auflösungen E s geschah am Abend des 5. De- zember, Anfang der 1920er Jahre in Ockenheim, einem kleinen Weinort in Rheinhessen. Der kleine Fritz war mit seinem Hund Alli al- leine zu Hause. Plötzlich er- scholl Lärm im Hausflur und eine vermummte Gestalt mit einem großen Sack polterte in die Stube. Flugs verschwand Fritz unter dem Tisch und leg- te schutzsuchend denArm um seinen vierbeinigen Freund. In dem Fremden hatte Fritz den Nikolaus erkannt. Dieser verlangte lautstark, der kleine Bub solle ein Ge- dicht oder ein Gebet aufsa- gen. Er drohte ihm mit der Rute und machte Anstalten, davon Gebrauch zu machen. Fritz linste zwischen den Fransen der Tischdecke hin- durch und sah den Nikolaus näherkommen. Furchtsam- mutig klang es in rheinhessi- schem Idiom wenig schmei- chelhaft unter dem Tisch hervor: „Die Mamme is in de Kerch un unser Bawettche is bei’s Reckerts. Hau bloß ab, du K..., du v..., sunscht schick ich dir unsern Alli no!“ Doch Alli zeigte wenig Neigung, den Eindringling zu vertreiben. Sein ausgeprägter Geruchssinn hatte ihm längst verraten, daß der Nikolaus niemand anders war als „un- ser Bawettche“, die große Schwester von Fritz. Die bei- den Geschwister trennten 18 Jahre, doch Barbara, genannt Bawettche und Fritz, den Nachkömmling der Familie, verband lebenslang eine inni- ge Zuneigung. Dies galt ebenfalls für mich, Rosemarie, die 1949 als Tochter von Fritz gebo- ren wurde und ihre Tante Ba- wettche genauso mochte wie schon ihr Vater. Eines Tages im Herbst erschien auch bei der kleinen Rosemarie der Nikolaus. Merkwürdigerwei- se trug er die Eisenbahner- kappe ihres Vaters, was sie schon etwas verwunderte. Es war nur ein kurzer Besuch – vielleicht als Einstimmung auf den Nikolausabend? Bis dahin konnte oder woll- te Tante Bawettche offenbar nicht mehr warten. Das Ni- kolaus-Gen machte sich be- merkbar. Als viel angenehmer erleb- te ich übrigens die Besche- rung durch das Christkind an Heiligabend. In einem langen weissen Kleid, das Gesicht hinter einem Tüllschleier ver- borgen, sprach es mit hoher Stimme liebevoll zu mir. Ich dürfte höchstens drei Jah- re alt gewesen sein, aber ein Schimmer der Erinnerung an Das Nikolau Eine Kurzgeschichte von Rosemarie
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