DOPPELPUNKT 2019

Dezember 2019 Weihnachten an der Berliner Mauer oder Engel mit Gewehr D ie Gefühle rund um das Weih- nachtsfest im Berlin meiner Kindheit wa- ren geprägt von der Teilung der Stadt in West und Ost. Die 1961 gebaute Berliner Mau- er bedeutete nicht nur einen Riß quer durch Berlin, sondern auch mitten durch unsere Fa- milie. Meine Eltern, meine jün- gere Schwester Manuela und ich lebten im Westteil, unse- re Großeltern und unsere Lieb- lingstante im Ostteil der Stadt. Da machte sich bei aller weih- nachtlichen Vorfreude gerade in der Adventszeit zugleich im- mer eine gewisse Traurigkeit über die Trennung breit. Von Dagmar GÖSTEL So sicher Lametta unseren Weihnachtsbaum schmückte, so sicher gehörte der erste Weih- nachtsfeiertag meinen Groß- eltern und meiner Tante „drü- ben“. Das bedeutete sehr frühes Aufstehen an jedem 25. Dezem- ber, dann stundenlanges Warten an der Grenze. Die „Vopos“ be- äugten uns kritisch – oder kam es uns nur so vor, weil meine Eltern immer verbotene Dinge dabei hatten? Wurst und Fleisch für Omas Kochkünste, West-Zeitungen für Opa, eine Schallplatte für meine Tante – nach mensch- lichem Ermessen zwar alles si- cher versteckt und gut getarnt in Tüten und Taschen, aber man wusste ja nie ... Der Trick bestand darin, die Tüten und Taschen sofort be- reitwillig und geöffnet dem jeweiligen Kontrolleur unter die Nase zu halten, noch bevor er uns dazu aufforderte. Diese „freiwillige Offenheit“ wurde meistens mit nur oberflächlicher Taschenkontrolle belohnt, die nie in die Tiefe ging. Ich erinne- re mich, wie mein Vater einmal, sehr zum Vergnügen von uns Kindern, eine Fleischwurst in der Innentasche seiner Anzug- jacke versteckte. Puuuuh, war diese Hürde genommen, konn- ten wir schon bald Oma, Opa und unsere Tante in ihrer ofen- geheizten Stube in Weißensee in die Arme schließen und bei Kerzenlicht, Dresdner Stollen und Omas heißgeliebtem Rosi- nenkuchen für ein paar Stunden so tun, als gäbe es keine tren- nende Mauer ... Am Abend dann, alle Jahre wieder, das Ganze rückwärts: Ausgestattet mit Geschenken meiner Großeltern, führte der Heimweg zurück zur Grenze. Da passierte zu Weihnachten 1964 am Grenzübergang Born- holmer Straße die Fast-Katas- trophe: Meine Mutter reichte unsere Ausweise dem Grenz- soldaten. Der guckte, stutzte, guckte wieder, blätterte wild in den Ausweisen herum und schnauzte schließlich: „Sie sind heute Morgen mit nur einem Kind in die DDR eingereist, also reist jetzt auch nur eines wieder aus!“ Meine Mutter war eine zier- liche Frau, aber sie wurde in diesem Moment – zumindest stimmlich – zur Riesin. Ich habe ihre Antwort in schönstem Ber- liner Dialekt noch heute, über fünf Jahrzehnte später, im Ohr: „Sie, junger Mann, wir sind mit zwee Mädels anjekommen und nehmen ooch beede wieder mit zurück – und wenn ick hier steh’, bis der letzte Schnee je- taut is’!“ Ungerührt rief man uns aus der Warteschlange und ließ uns abseits stehen. Es war fast stockdunkel, ein paar Grenzla- ternen gaben kaum Licht, viel- mehr tauchten sie die Szenerie in Unheimlichkeit. Wir waren allein, standen ohne Ausweise mitten in der Grenzanlage. Es gab kein Vor und kein Zurück. Wir warteten. Minuten. Eine Stunde. Die Angst kroch ganz lang- sam überallhin und die winter- liche Eiseskälte hinterher. Bald kämpfte meine Mutter mit den Tränen, was sie zwar zu ver- bergen suchte, aber ihr Kinn gehorchte ihr nicht, es zitterte verdächtig. Noch heute höre ich meinen Vater beruhigend auf sie einreden, aber der flat- terige Schatten seiner Hand, als er an seiner Zigarette zog, ver- riet auch ihn. Kindern entgeht so etwas nicht. Meine kleine Schwester war sechs und ich war acht Jahre alt. Die Eltern hatten also Angst, das be- deutete echte Gefahr. Plötzlich, wie aus dem Nichts, trat ein paar Meter weiter ein junger Grenzsol- dat aus dem Dunkel seines Wachhäus- chens. In Zeitlupe kam er auf uns zu, ein Gewehr auf dem Rücken, und umrundete uns ein ums an- dere Mal. Dabei ging er immer ganz nah an meine Eltern heran und flüsterte Ihnen unaufhörlich zu: „Haben Sie keine Angst, es wird ihnen nichts passieren, Sie werden ganz bestimmt beide Kinder wieder mitnehmen.“ Das entspannte unsere Lage kolossal, Mutters Kinn zitterte nicht mehr, während es für den Soldaten sicher sehr ungemüt- lich geworden wäre, hätte man ihn dabei erwischt, uns zu trös- ten und überhaupt mit uns zu sprechen. Nach einer Ewigkeit winkte man uns heran, drückte mei- nem Vater die Papiere in die Hand und entließ uns alle vier tatsächlich mit einem „Fro- he Weihnachten noch!“ in die Freiheit. Keine Erklärung, kei- ne Entschuldigung, aber das war jetzt auch egal. Wir wollten nur noch weg. Als wir dann endlich in ei- nem geheizten Berliner Bus den Heimweg in Richtung Charlot- tenburg antraten und meine El- tern meine Schwester und mich wortlos an sich drückten, sagte meine kleine Schwester: „Der Mann mit dem Gewehr kam mir vor wie ein Engel.“ Naja, „Engel“ war sicher et- was übertrieben, aber dieser junge Grenzsoldat gab dem Ganzen – zumindest für uns an diesem Weihnachtstag – ein menschlicheres Gesicht und so wurde er zu unserem ganz per- sönlichen Weihnachtsengel. * * * Die Bücher aus dem Zeit- gut-Verlag gehören fast schon so zu Weihnachten, wie der Christbaum oder der Advent- kranz. Heuer ist der 14. Band der Se- rie „Unvergesse- ne Weihnachten“ erschienen und enthält auf 192 Seite 31 besinn- liche und heitere Zeitzeugen-Er- innerungen wie auch die hier ab- gedruckte Kurzge- schichte. Das Buch kostet 10,90 Euro und ist im Buchhan- del aber auch online auf www. zeitgut.com erhältlich. ISBN: 978-3-86614-280-0. DOPPELPUNKT verlost zwei Exemplare. Wer mitspie- len möchte: www.flachgau24. at/Gewinnspiele KURZGESCHICHTE Es sind ja doch zwei Kinder ... Bild: Zeitgut-Verlag

RkJQdWJsaXNoZXIy MTA1MzE0