DOPPELPUNKT Dezember 2018

E s war noch zu der Zeit, als man das, was man gerne be- sitzen wollte, sel- ber machen muss- te. Man konnte es nicht kau- fen; sei es, dass man kein Geld hatte, sei es, daß es überhaupt nicht käuflich zu erwerben war. Ein solches „Es“ war ein blau- es Tretauto. Mein Vater hatte es gebaut für meinen älteren Bruder. „Gebaut“ ist eigentlich nicht das richtige Wort. Er schuf es vielmehr, so wie Gott die Welt erschaffen hatte – aus dem Nichts. Von Hans ENGELS Denn es war ja nichts da, oder richtiger, fast nichts. Und aus dem wenigen, das da war, entstanden unter den Händen meines Vaters die wunderbars- ten Dinge. Er war dann fern jeder Hek- tik, die Ruhe selbst, eine ge- heimnisvolle, aber auch ber- gende Ruhe, die uns in seinen Bann zog. Sehr zum Leidwesen der Mutter, die diese himm- lische Ruhe jedesmal aus der Fassung brachte: Wie konnte ein Mensch nur eine solche Geduld haben! Während dieses schöpferi- schen Tuns kam nicht ein unbe- herrschtes oder gar böses Wort von seinen Lippen. Ich glaube, dass sein Wesen mich damals anrührte, denn noch heute steht für mich fest: Alle guten Dinge gedeihen in der Stille, sie be- nötigen Geduld und Güte und nicht der großen Worte. Leider entschwindet dieseWeisheit mir all zu oft, und ich laufe Gefahr, mir selber untreu zu werden. Das Tretauto wuchs also he- ran, bis es vollständig war, bis es gleichsam geboren war – ein Wunderwerk an Eleganz und technischer Raffinesse. Und man weiß nicht, wer mehr er- strahlte, ja wessen Augen mehr glänzten, die des Erbauers oder die des Fahrers. Doch lange währte das Glück nicht. Vater musste an die Front. Und als er wiederkam, war mein Bruder gestorben. Es dauerte lange, bis mein Dezember 2018 ADVENT IM FLACHGAU Vater den Schmerz überwun- den hatte. Ob er je da hin- ausfand, weiß ich nicht. Das Schweigen war ihm immer schon sein Zuhause gewesen, und er öffnete nur ganz selten die Tür zu seinem Innern einen Spalt und ließ einen Blick zu. Und wenn es einmal geschah, dann war es weniger ein Wort als vielmehr ein Blick, ein Lä- cheln oder auch nur ein tiefer Atemzug oder eine Gebärde. Aber nun stand dieses Wun- derwerk von einem Auto im Keller. Doch aller Glanz war von ihm gewichen. Staub be- deckte den glatten Lack, und an den Rädern klebte noch der Schmutz von seiner letzten Fahrt. Einmal trat ich in den Keller und erschrak ein wenig, denn Vater stand an seinem Werk, eine ganze Weile. Schließlich strich er mit sei- ner linken Hand über den Lack, ja er streichelte das Gefährt, und die schöne blaue Farbe leuchtete, von der Staubschicht befreit, und zeigte erst jetzt ihre glänzende Schönheit. Als er mich bemerkte, blieb er unsicher stehen. Schließlich ging er in die Knie und drückte mich, der ich näher gekommen war, an seine Brust. Ein kühler Tropfen fiel auf meine Hand. Wir redeten nicht miteinander, und auch später hätte jedes Wort unser Geheimnis zerstört. Es ging gerade auf Weih- nachten zu, und insgeheim wünschte ich mir, Besitzer des Tretautos zu werden; aber ich wagte ja nichts davon zu sagen. Es wäre wohl ein besonders günstiges Geschenk für mich. Das Christkind brauchte jeden- falls kein Geld auszugeben, das Auto war ja schon da. Und tatsächlich, eines Abends war dasAuto weg.Aber ich brauchte nur dem Duft der frischen Farbe nachzugehen. Blitzeblank stand es in einem Bretterverschlag, die Stoßstangen waren neu gestrichen, mit schwarzer Farbe und die Radfelgen mit gelber. Ich war fest davon über- zeugt: Das war mein Weihnachtsge- schenk. Wenige Tage vor Weihnach- ten hielt ein LKW vor unserem Haus, damals ein nicht alltäg- liches Ereignis, aber an diesem Abend ein wunderbares zugleich. Der LKW brachte Kar- toffeln. Sechs Säcke voll Kartoffeln! Sechs Zent- ner! Eine herrliche Sache. Wir konnten zu Weihnach- ten Kartoffeln essen! Die Männer schafften die Kartoffelsäcke in den Kel- ler, einen Sack nach dem an- deren. Meinen Vater sah ich nicht in der hereinbrechenden Dunkelheit. Und dann trugen die Män- ner das blaue Tretauto aus dem Keller, über den Hof, zur Stra- ße und schoben es in den dunk- len Laderaum. Ich habe Vater an diesem Abend nicht mehr gesehen, erst am nächsten Abend, als er von der Arbeit kam. Mutter hatte Kartoffeln gekocht und dann mit Zwiebeln gedämpft. Dies musste mit Wasser geschehen, denn Fett gab es keines. Aber an diesem Abend schmeckten die Kartoffeln nicht und das lag nicht nur da- ran, dass Mutter sie hatte an- brennen lassen. Später, ich glaube, es war zwei oder drei Jahre danach, baute Vater wieder ein Tretau- to, ein grünes mit roten Kotflü- geln. Aber es fuhr nicht so gut wie das blaue, und das war kei- ne Einbildung! Diese Geschichte wur- de aus dem Buch „Un- vergessene Weihnach- ten“ entnommen, Das Buch ist der 13. Band dieser Reihe des Zeitgut-Verlages. DOPPEL- PUNKT verlost zwei Exemp- lare dieses Weihnachtsbuches. Die Verlosung findet rechtzei- tig vor den Feiertagen statt, so dass die Gewinner zu Weih- nachten die Geschichten lesen können. Wer mit- spielen möchte, kann das im Internet: www. flachgau24.at im Be- reich „Gewinnspie- le“. Oder sie schicken uns eine e-mail (bitte vergessen Sie Ihre Adresse nicht) mit dem Betreff-Vermerk „Weihnachtsgewinnspiel“ an redaktion@doppelpunkt.co.at Das blaue Tretauto Das blaue Tretauto mit meinem Bruder 1942. Er war damals vier Jahre alt und starb im März 1945 im Alter von sieben Jahren.

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