DOPPELPUNKT April 2021
April 2021 Juhu, endlich wieder Frisör … Oder: Jede Krise hat ihre Frisur S ind wir uns doch ehrlich. Die dau- ernden Lockdowns haben zu einer Zweiklassengesellschaft geführt. Und ich meine jetzt beileibe nicht Impfwütige auf der einen und Impfskeptiker auf der anderen Seite. Ich denke auch nicht an Menschen die gegen die Coronaregeln auf die Straße gehen, während sich die anderen in ihren vier Wanden ver- schanzen. Ich meine die, die bereit sind, sich für einen Frisörbesuch mit einem dünnen Stangerl durch die Nase bis ins Hirn bohren zu lassen und die anderen, die selbst zu Schere und Rasierer greifen (oder greifen lassen) um ihre Haare in Fasson zu bringen. Letztere Gruppe sind in erster Linie Männer. Viele von ihnen haben im Laufe des vergangenen Jahres die Vorteile von kurzen Haaren erkannt und dass so ein Haarschnitt auch selbst recht schnell hergestellt werden kann. Und ich muss jetzt schon sagen: In mei- nem Bekanntenkreis sind die Kurzhaa- rigen wesentlich mehr geworden. Auch der Trend zur Glatze ist unverkennbar, kann mich persönlich aber nicht so begeistern. Meine Erkenntnis aus den Lockdowns: Wenn´s ums Kopfhaar geht, sind fünf Millimeter das ideale Maß al- ler Dinge. W as diese tiefgründige Erkenntnis mit der unten stehenden Kurzge- schichte zu tun hat? Ganz einfach. Diese Geschichte zeigt uns, dass die Haare auf unserem Kopf noch in jeder Krise eine außergewöhnlich große Rolle gespielt haben. Rupert Lenzenweger Von Trümmerfrauen und Dauerwelle T ante Kathi war eine klassische Trümmerfrau. Sie trug jahrelang ein Kopftuch, das sie von hinten nach vorne über dem Kopf zuknotete. Mit diesem Outfit gehörte sie ein- fach dazu. Rissig ihre Hände, schmal ihr Mund und der Rü- cken tat immer weh. Giftige Blicke hin zu den Frauen mit kleinen Kindern, die keine Trümmerfrauen sein „muß- ten“, weil sie die Kleinen stillten. So jedenfalls hieß die offizielle Version. Dorothea F. VOIGTLÄNDER In Bonn hatte es auch Bom- ben gehagelt, vor allem in jenem Oktober 1944 am hell- lichten Tag. Die Altstadt war weg, in der Stadtmitte, am Friedensplatz, hatte es vie- le Opfer gegeben. In unse- rer Gegend war jedes zweite oder dritte Haus getroffen worden. Zuerst wurde nur ein kleiner Durchgang für die Straße freigelegt. Noch Jahre später hörte man sie klopfen und fegen, sorgsam jeden Stein behandeln, sortieren nach Größe und Haltbarkeit. Eine Staubwolke lag über den Sonder-Baustellen, wo Trüm- merfrauen die alten Steine für neugeplante Häuser sachkun- dig von Hand bearbeiteten. Aber schließlich kam so et- was wie Ordnung in die „Bau- stellen“. Und da galt es aufzu- passen, dass niemand die bes- ten Steine klaute. Denn Repa- raturen waren mehr oder we- niger fast überall notwendig geworden. Tante Kathi stand nicht selten Wache, um die sauber geschichteten Steine vor räuberischen Übergriffen gewisser Nachbarn zu bewa- chen. Dann gab es Ärger und laute Schimpfereien. Man- cher Streit sollte Jahrzehnte halten. Nachbarschaftskrach als Kriegserbe! Eines Tages kam eine schicke Frau durch die Tü- re: Frisch dauergewelltes, glänzendes dunkelbraunes Haar, strahlende Augen, ein neuer Rock und sogar Nylon- strümpfe an den zarten Bei- nen und, oh Sünde, mit Lip- penstift! Doch als diese „fremde“ Frau den Mund aufmachte, war allen klar, dass das nur Tante Kathi sein konnte. Noch nie hatten wir Kinder sie oh- ne ihr Trümmertuch gesehen. Nun machten sich Schönheit und Wohlstand breit. Dauerwellen waren groß in Mode. Strähniges Haar war verpönt. Also machten wir Kinder uns auch auf den Weg zum Friseur und wollten eine Dauerwelle statt der Zöpfe. Der Friseur aber wies uns entsetzt zurück, da sollten wir erst einmal die Mutter fragen, und außerdem sei das zu teu- er. Erschrocken sahen wir auf die Frauen in den Friseurses- seln mit den vielen winzigen Röllchen auf den Köpfen, atmeten einen entsetzlich bis- sigen Gestank im Raum, dass uns die Augen tränten. Das also musste man „erleiden“, um dauergewellte Haare zu bekommen? Nein danke. Phantasievoll änderten wir unsere ewig langgeflochte- nen Zöpfe in Schnecken über den Ohren oder als Kranz um den Kopf. Einfach war das auch nicht, aber wir hal- fen uns dabei gegenseitig. Ein neues Outfit auch für die heranwachsenden Mädchen der frühen fünfziger Jahre. Schließlich war Bonn die Bundeshauptstadt, wo Staats- besucher wie Könige und Prinzen eintrafen. Da musste man schick sein. Und noch etwas Positives hatte die neue Jungmädchen- Frisur: Dass nämlich die Bu- ben uns in der Schule nicht mehr die Zöpfe an den Stuhl festbinden konnten. Unsere erste Dauerwelle kam dann zur Tanzschulzeit, als die pickeligen Jünglinge noch lernen mussten, wie man einen richtigen Handkuss haucht, und wir Mädchen uns mit Mutters Parfum in eine lustvolle Duftwolke hüllten. Diese Kurzgeschichte ist dem Buch „Schlüssel- Kinder“ entnommen. Das Buch ist im Zeitgut Verlag im Rah- men der Serie „Kindheit in Deutsch- land 1950-1960“ erschienen. 336 Seiten, viele Abbildungen, Taschen- buch, ISBN 978-3-86614-156-8. www.zeitgut.com KURZGESCHICHTE
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